Die volle Wucht der Asylfrage
Dies ist nur ein Symbolbild für das, was gerade am Alexandrine-Hegemann-Berufskolleg vor sich geht: Mitschüler wollen die Abschiebung von Migena Cela (M.) und ihrer Familie verhindern. Die angehenden Gymnastiklehrer, heut spricht man auch von Bewegungspädagogik, werden in einem chancenreichen Wirtschaftszweig - z.B in der Gesundheitsprävention - arbeiten. Migena steht vor der Entscheidung, berufliche Zukunft oder Familie aufzugeben. FOTO: FIEKENS
29.06.2018
RECKLINGHAUSEN. Am Alexandrine-Hegemann-Berufskolleg nehmen Mitschüler die Abschiebung einer 18-Jährigen nach Albanien nicht hin.
Von Thomas Fiekens
Die Rechtslage ist unstrittig, die menschliche Tragödie dahinter unermesslich. Migena Cela steht vor der Entscheidung: Bleibt sie allein zurück in Deutschland, um ihre Ausbildung zur Gymnastiklehrerin am Recklinghä user Alexandrine-Hegemann-Berufskolleg zu beenden? Oder gibt sie die Zukunftsperspektive auf und geht mit ihrer Familie zurück nach Albanien, wohin Vater, Mutter und der elfjährige Bruder abgeschoben werden sollen? Mit voller Wucht treffen alle Fragen der Flüchtlings- und Asylpolitik die Mitschüler der 18-Jährigen. Fernsehberichte über Abschiebungen sind nicht mehr weit weg, es geht um eine von ihnen - junge Menschen wollen das nicht mitmachen. So wie Anton Wolf: Er hat eine Internetpetition initiiert: „Abschiebung der Familie Cela verhindern - jetzt!" Sie ist adressiert an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Petitionsausschuss NRW.
Migenas 18. Geburtstag hat alles geändert: Sie ist nun volljährig, für sich selbst verantwortlich. Die Ausbildung als „Abschiebehemmnis" schützt nur noch sie allein. Die im Zusammenhang bis dato in Deutschland „geduldete" Familie Cela hat am 15. Juni, ein paar Tage nach dem Geburtstag, den Abschiebebescheid erhalten.
Schulleiter Gregor Rüter beeindruckt die Solidarität der Schüler. „Wir haben ein Musterbeispiel für das, was man unter gelungener Integration versteht", sagt Rüter am Donnerstagmorgen im Berufskolleg an der Werkstättenstraße in RE. "Keiner versteht das: 2017 hat Migena in der Jahrgangsstufe 11 eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin begonnen. Sie liefert beeindruckend gute Ergebnisse ab. Allein der Spracherwerb in so kurzer Zeit ist ein toller Erfolg. Migena wird von den Mitschülern wertgeschätzt, man trifft sich, sie bekommt Geburtstagseinladungen - das sind alles Indikatoren für gelungene Integration."
Berufskolleg mit eigenem Wertekanon
Das Engagement der Schüler beruht womöglich gerade darauf, dass das Berufskolleg in Trägerschaft des Bistums Münster Schulabschlüsse und Ausbildung im Gesundheitsund Sozialbereich anbietet. Und Menschen darauf vorbereitet, als Erzieher oder als Gymnastiklehrer im Präventions- und Reha-Bereich andere Menschen wertzuschätzen.
Lehrer stehen hinter der Forderung, die Abschiebung abzuwenden, Eltern von Mitschülern machen mit. Der Protest wird breiter, Landtags- und Bundestagsabgeordnete werden per Brief mit der Bitte konfrontiert, wenigstens die „Duldung" der Familie zu verlängern, und - wenn möglich - ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zu gewähren. 2015 ist Familie Cela nach Deutschland gekommen. Er hat in Albanien als Fliesenleger gearbeitet, sie als Schneiderin - als Asylbewerber dürfen sie das hier nicht. In Deutschland konnten Ärzte ihrem Sohn, heute elf Jahre alt, helfen. Er ist krank, leidet unter Lähmungserscheinungen. Aktuell ist er „abschiebefähig" - gleichwohl rechnen Mediziner damit, dass ohne Folgetherapie mit Rückschlägen zu rechnen ist.
Doch die Rechtslage scheint klar, Familie Cela soll gehen. Zuständig ist das Ausländeramt in Gladbeck. „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und Verwaltungsgerichte treffen die Entscheidungen, das Ausländeramt der Stadt ist die ausführende Behörde", erklärt David Hennig vom Presseamt. „Wir haben die Familie auch beraten und sie darüber informiert, dass sie im Fall einer freiwilligen Ausreise nach einer zehnmonatigen Sperre für 90 Tage wieder einreisen könnte, um die Tochter zu besuchen. Oder mit einem Arbeitsvisum für die Eltern."
Während Rüter seine Schülerin am Donnerstagmorgen lobt, hat die Klasse 11 der angehenden Gymnastiklehrer Pause, sie „chillen", wie es junge Leute halt so machen. Migena gehört wie selbstverständlich dazu. Schüchtern wirkt das Mädchen und, ja, bedrückt. Sie zu fragen, wie sie sich denn nun entscheiden wird, verbietet der Anstand. In Gesprächen mit Lehrern hat sie angedeutet, Deutschland mit der Familie zu verlassen. Ein Land, das wie so vieles auch Gymnastiklehrer braucht.
Die Petition im Internet: www.openpetition.de/petition/online/familie-cela-ein-gelungenes-beispiel-fuer-integration
AUF EIN WORT
Unwürdig
Es ist ein über jedes Maß krasser Vorgang: Während sich gerade alle Söderhofers dieser Republik in Berlin als Asyl-Sheriffs in Schotten-dicht-Rhetorik überbieten, machen sich Schülerinnen und Schüler des Alexandrine-Hegemann-Berufskollegs für eine Mitschülerin stark, die ganz genau weiß, was es bedeutet, an einem richtigen oder falschen Fleck auf der Erdkugel geboren zu sein. Der jungen Frau Cela also wird großzügig die Entscheidung gewährt, entweder ihre hoffnungsfroh begonnene Zukunft oder die Familie sausen zu lassen. Ich oder ihr? Adieu Papa und Mama, mach es gut, kleiner Bruder?
Mein Gott, was ist das unwürdig. Und was macht das mit einer 18-Jährigen und wie viele Migenas gibt es in Deutschland? Seit Jahrzehnten drückt sich Deutschland darum, tatsächlich Einwanderungsgesetze zu schaffen, die Menschen die Chance eröffnen, hier Fuß zu fassen. Und nicht über die Hilfskrücke eines Asylantrages den Versuch unternehmen zu müssen, der absoluten Perspektivlosigkeit zu entkommen. Da sind sie dann sprachlos, die Söderhofers.